Eine Übersicht von Nick Reimer
Das Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung hat 16 Kipppunkte im Erd-Klimasystem genannt, die durch menschliche Einflüsse verändert werden und so ihre angestammte Funktion für das Wetter verlieren. Sie haben das Potenzial, dass sich die Klimaerhitzung verselbstständigen kann. Diese Kipppunkte sind:
Permafrost-Böden
Fast ein Viertel der Landfläche auf der Nordhalbkugel ist dauergefroren: Alaska, Nordkanada, weite Teile Sibiriens – insgesamt 23 Millionen Quadratkilometer Boden tauen nie auf. Sie wirken wie eine riesige Tiefkühltruhe, in der gigantische Mengen organischer Substanzen eingefroren sind. Es handelt sich dabei um abgestorbene Pflanzenreste, die beim Auftauen durch Bakterien zersetzt und in die Treibhausgase Kohlendioxid oder Methan umgewandelt werden.
Allein im oberen Bereich der Permafrost-Böden stecken bis zu 1.500 Milliarden Tonnen Kohlenstoff, fast doppelt so viel, wie es derzeit in der gesamten Erdatmosphäre gibt. Weil die Erderwärmung an den Polen deutlich schneller als am Äquator verläuft, beginnt der Boden bereits jetzt zu tauen: Die Dauerfrost-Regionen in Sibirien und Nordamerika haben sich schon um bis zu 100 Kilometer nach Norden verschoben. Guido Grosse, Professor am Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung: „Einmal in Gang gesetzt, lässt sich der schnelle Auftauprozess nicht mehr aufhalten.“
Amazonas-Regenwald
„Der Regenwald des Amazonasgebietes speichert oberirdisch besonders viel Kohlenstoff“, erklärt Christopher Reyer, Waldexperte am Potsdam- Institut für Klimafolgenforschung (PIK). Oberirdisch bedeutet: Kohlendioxid ist im Holz der Bäume gebannt. Die hohe Sonnenintensität am Äquator sorgt dafür, dass hier sehr viel Wasser aus dem Wald verdunstet und sich Wolken bilden. „Diese regnen dann im Flachland und an den Hängen der Anden wieder ab und versorgen so den Regenwald mit neuem Wasser“, sagt Reyer. Ein sich selbst erhaltendes System.
Steigt die Globaltemperatur aber um durchschnittlich mehr als zwei Grad an, gerät der Amazonas-Regenwald in Hitzestress: Er kann dann nicht mehr so viel Wasser verdunsten, es entsteht weniger Regen. Das aber sorgt dafür, dass der Wald weniger Wasser zugeführt bekommt, was die Bäume nach und nach absterben lässt. Dadurch wird der gespeicherte Kohlenstoff wieder frei und heizt den Klimawandel weiter an – ohne dass der Mensch dagegen etwas unternehmen könnte.
Wälder im Norden
Nicht nur die artenreichen Regenwälder stellen solch ein Kippelement dar, sondern auch die borealen Wälder, etwa in der Taiga, also im kalten Norden. „Steigende Temperaturen erhöhen das Risiko durch Feuer, Trockenheit und Stürme“, sagt PIK-Experte Christopher Reyer, der als Projektleiter mit Kolleg_innen aus neun Ländern eine umfassende Studie über die Gefahren des Klimawandels für den Wald vorlegte. Ein geschwächter Wald ist außerdem gegenüber ganz natürlichen Störungen wie Insekten- oder Pilzbefall stärker anfällig. Christopher Reyer: „Sterbender Wald erzeugt Kohlendioxid, und dadurch wird die Erderwärmung weiter eingeheizt.“
Arktische Meereisbedeckung
Seit Jahren geht am Nordpol die Meereisbedeckung zurück, Ende Februar 2018 – also am Höhepunkt des diesjährigen Winters auf der Nordhalbkugel – b edeckte das Eis nur noch auf 14.189 Millionen Quadratkilometern den Ozean. „Das ist die kleinste je in der Arktis gemessene Eisdecke am Ende des Monats Februar“, erklärt Christian Haas, Professor für die Geophysik des arktischen Eises an der York University im kanadischen Toronto.
Mensch kann das Problem gut mit einem Spiegel illustrieren, der in die Sonne gehalten wird. Haas: „Eisflächen haben einen höheren Rückstrahleffekt als die dunklere Wasseroberfläche.“ Je kleiner dieser Spiegel – also die arktische Meereisbedeckung – ist, desto mehr Sonnenstrahlen dringen in den arktischen Ozean ein. Das Wasser heizt sich so immer weiter auf, was zum weiteren Abschmelzen des auf dem Ozean treibenden Eises führt: ein sich automatisch selbst verschärfendes Problem.
Golfstrom
Vor Grönland gefährdet tauendes Gletschereis den Golfstrom und damit die größte Energiepumpe der Welt. „Süßwasser ist leichter als Salzwasser, weshalb getautes Grönlandeis sich in der Oberfläche des arktischen Ozeans schichtet“, erläutert Professor Boris Koch vom Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung. Normalerweise kühlt sich das salzhaltige Ozeanwasser in der Arktis ab, wird dabei schwerer, sinkt in größere Meerestiefen – und zieht Nass aus der Karibik nach. „Getautes Süßwasser aber verhindert zunehmend die Tiefenwasserbildung, der Motor beginnt zu stocken.“
Eine Studie war gerade zu dem Ergebnis gekommen, dass sich das System des Golfstromes seit Mitte des 20. Jahrhunderts um 15 Prozent abgeschwächt hat. Würde der Golfstrom versiegen, käme es in der Nordatlantik-Region immer wieder zu heftigen Kälteeinbrüchen.
Große Luftströmungen
Als Kippelement werden auch wichtige regionale Wettersysteme bezeichnet. Steigt die globale Oberflächentemperatur um mehr als zwei Grad Celsius, wird der indische Monsun instabil. Entweder bleibt dann der gewohnte Regen aus, von dem die Ernährung und die Arbeit von 500 Millionen Menschen abhängen. Oder es gibt dann viel zu viel Regen.
Ähnlich verhält es sich beim westafrikanischen Monsun, der durch den Temperaturunterschied zwischen Nord- und Südhalbkugel gesteuert wird. Ab einer Globalerwärmung von mehr als drei Grad kommt das System durcheinander: Mal könnte die Sahelzone noch trockener werden, mal könnte sie im Regen untergehen. Was das bedeutet, war im Jahr 2007 zu beobachten, als 17 Länder von schweren Überschwemmungen heimgesucht worden, von Senegal über Mali, Niger bis in den Tschad.
In unseren Breiten ist es der Jetstream, der mit steigender Temperatur durcheinandergerät: Dieser Wind auf der Nordhalbkugel oberhalb von zehn Kilometern Höhe zieht sich um die ganze Erde und bestimmt das Wetter. Schlägt dieses Windband kräftige Wellen oder staut es sich, sind Extremwetter die Folge: die Hitzewelle im Sommer 2010 in Osteuropa, die Eiseskälte in Nordamerika 2014 genauso wie der verregnete Sommer 2017 oder die große Hitze 2018.
Große Eisschilde
Als Kippelemente gelten auch die großen Eisschilde dieser Welt, auf Grönland, in der Westantarktis sowie Ostantarktis. „Wird ein bestimmter Temperaturbereich überschritten, kann die Maschine nicht mehr angehalten werden“, sagt Boris Koch, Umweltwissenschaftler am Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung. „Für den bis zu drei Kilometer dicken Eispanzer auf Grönland gilt ein Temperaturanstieg der Atmosphäre zwischen ein und zwei Grad als kritisch“, sagt Koch. Langfristig könnte das schwindende grönländische Eis den Meeresspiegel um zwei bis sechs Meter anheben. Städte wie New York oder Tokio müssten aufgegeben werden.
Ein komplettes Abschmelzen der Eispanzer in der Antarktis würde den Meeresspiegel weltweit sogar um 58 Meter anheben. Allerdings braucht das seine Zeit. „Über einen Zeitraum von 10.000 Jahren kann die Antarktis eisfrei werden, wenn wir unsere fossilen Ressourcen vollständig verfeuern“, erklärt Ricarda Winkelmann vom Potsdam- Institut für Klimafolgenforschung. Derzeit gelten diese Eisschilde noch als ungefährdet.
Weitere Kippelemente
Zu den oben beschriebenen Kippelementen kommen noch die Abschwächung der marinen Kohlenstoffpumpe, Methanausgasung aus den Ozeanen, Änderungen des Strömungsphänomens El Niño im Pazifik, das Austrocknen des nordamerikanischen Südwestens – auch in den USA und Kanada gab es in diesem Sommer eine große Dürre – sowie die Zerstörung der Korallenriffe. Weltweit sind eine halbe Milliarde Menschen von intakten Korallenriffen abhängig: Hier beginnt die maritime Nahrungskette.
Nick Reimer