Buchrezension von Peter Bräunlein, NaturFreunde Ulm
Der amerikanische Journalist Mike Smith schildert in „Boko Haram. Der Vormarsch des Terror-Kalifats“ (München: C. H.Beck, 2015) den Aufstieg der islamistischen Gruppe, die 2014 weltweites Aufsehen durch die Entführung von fast 300 Mädchen im Norden Nigerias erregte. Mittlerweile hat sie ihre Aktivitäten bis in die benachbarten westafrikanischen Staaten Niger, Tschad und Kamerun ausgedehnt. Sie kontrolliert ein beachtliches Gebiet im Nordosten Nigerias und bekennt sich zum Islamischen Staat (IS).
Soweit der Stand des Wissens in interessierten Kreisen in Deutschland. Tatsächlich stellt sich Boko Haram als weit komplexeres Phänomen dar, wie Mike Smith, der jahrelang für eine internationale Nachrichtenagentur in Nigeria arbeitete und mehrfach in den zum Teil schwer zugänglichen Nordosten Nigerias reiste, in seinem spannend geschriebenen Band zeigt.
Im seit dem 11. Jahrhundert im Norden Nigerias dominierenden Islam kam es Ende des 18. Jahrhunderts zu einer Reformbewegung, die zu dem etwa ein Jahrhundert existierenden Kalifat von Sokoto führte, das einerseits recht stabil war, andererseits zumindest gelegentlich barbarische Strafen wie das Pfählen kannte. Sklaverei und Sklavenraub waren weit verbreitet. Nach der Eroberung durch die Briten Ende des 19. Jahrhunderts kam es 1903 zu einem Aufstand, den der spätere britische Generalgouverneur Lugard blutig niederschlagen ließ.
Gut 100 Jahre später ist der Norden und besonders der Nordosten eine kaum entwickelte Region in dem seit 1960 unabhängigen Nigeria. Eine kleine Minderheit aus Militärs und Politikern steckt sich die Profite aus dem im Süden geförderten Erdöl überwiegend in die eigene Tasche. Der besonders vernachlässigte Nordosten hat zum Beispiel ein kaum funktionierendes Bildungswesen. Militär und Polizei sind dort besonders brutal und korrupt.
Als der wahrscheinlich 1970 im Nordosten geborene Mohammed Yusuf eine von der wahhabitisch-salafistischen Richtung des sunnitischen Islam beeinflusste Erneuerungsbewegung aufzubauen begann, isolierte er sich zunehmend von den traditionellen Autoritäten, die mit den staatlichen Behörden kooperierten. Yusuf wollte einen islamischen Staat schaffen, der die britischen kolonialen Einflüsse beispielsweise in Bildung und Recht negierte. Er war ein Fundamentalist, der unter anderem die Evolutionstheorie ablehnte und die Erde für flach hielt.
Seine Anhänger waren meist wenig gebildete, arme und arbeitslose Männer. 2009 kam es vermutlich als Reaktion auf Polizeiübergriffe zu einem Aufstand. Polizeistationen und konkurrierende Moscheen wurden überfallen. Am dritten Tag wurde der Aufstand mit brachialer Gewalt von der Armee niedergeschlagen. Yusufs Moschee wurde zerstört, Yusuf und mehrere hundert seiner Anhänger wurden erschossen.
Das Ergebnis war eine Radikalisierung von Yusufs Bewegung, die nun von Abubakar Shekau angeführt wird, über den wenig bekannt ist. Von der islamistischen Bewegung spaltete sich ein Flügel ab, der nach eigenen Aussagen mit Al-Kaida kooperiert, was aber möglicherweise eher eine Tarnung für lukrative Geiselnahmen und Erpressungen ist. Auch ist unklar, ob die im Internet kursierenden Videobotschaften tatsächlich von Shekau und Boko Haram stammen.
Mittlerweile ist es schwer, zwischen Bandenkriminalität und Islamismus eine klare Grenze zu ziehen. Es ist schwierig, mit der Führung von Boko Haram Kontakt aufzunehmen geschweige denn zu verhandeln, da es sich insgesamt um eine wenig strukturierte Bewegung handelt, die aber nichtsdestotrotz weite Teile des Nordosten Nigerias kontrolliert.
Es ist kaum möglich, eine Zukunftsprognose zu stellen. Möglicherweise gelingt es dem 2015 gewählten neuen Präsidenten Buhari, die Situation in den Griff zu bekommen. Dafür sind aber massive Investitionen in den Norden, besonders in den Nordosten Nigerias, erforderlich und vor allem ein entschlossenes Vorgehen gegen die Korruption. Möglicherweise werden sich ausländische Einflüsse auf Boko Haram, die es bis jetzt kaum gibt, verstärken. Doch denkbar ist auch, dass sich der Norden Nigerias zu einem „failed state“ (gescheiterten Staat) entwickelt.
Peter Bräunlein, NaturFreunde Ulm