Gedämmte Häuser aus den 60er bis 80er Jahren könnten Sanierungsfälle werden
Rethem an der Aller, Heidekreis, Niedersachsen. Das Zweifamilienhaus, um das es hier geht, könnte sicherlich auch in jeder anderen deutschen Kleinstadt stehen – wären da nicht im Dachstuhl diese extrem hohen Belastungen mit giftigen Holzschutzmitteln, die bei Messungen des Bremer Umweltinstitutes gefunden wurden.
Obwohl die Behandlung des Holzes vor mehr als 55 Jahren erfolgte, wurden erst im April dieses Jahres in der Raumluft des ausgebauten Dachgeschosses sehr hohe Werte für sogenannte Polychlorierte Naphthaline (PCN) sowie eine hohe Lindan-Belastung gemessen. Kurz: Das Bremer Umweltinstitut empfahl eine Sanierung.
Tatsächlich dürfte dieser Dachstuhl in Rethem kein Einzelfall sein. Denn zwischen den Jahren 1956 bis 1990 mussten alle Häuser der damaligen Bundesrepublik mit PCN- und lindanhaltigen Holzschutzmitteln behandelt werden. Erst nach dem größten Umweltverfahren der deutschen Justizgeschichte, dem sogenannten Xylamon-Prozess, wurde PCN in Produktion und Anwendung verboten. Die Produktion von Lindan war schon 1984 eingestellt worden.
Zudem belegen die aktuellen Messwerte die hohe Persistenz der chlorierten Kohlenwasserstoffe: Ihre nicht nur für Holzschädlinge (sondern auch für den Menschen) schädlichen Eigenschaften haben sich in den letzten Jahrzehnten durch physikalische, chemische oder biologische Prozesse nicht nennenswert verändert.
Die stark gesundheitsschädlichen Holzschutzmittelbestandteile Pentachlorphenol (PCP), Polychlorierte Naphthaline (PCN) und Lindan können zur Reizung der Schleimhäute, Übelkeit, Erbrechen, Muskelschwäche und in schweren Fällen zu Überhitzung, Krampfanfällen und Atemlähmung führen. Bei langfristiger Exposition können Gewichtsverlust, Leber-, Nieren- und Knochenmarkschäden auftreten. Die Internationale Agentur für Krebsforschung der Weltgesundheitsorganisation hat Lindan erst im Juni 2015 als „krebserregend bei Menschen“ eingestuft. Lindan steht ferner im Verdacht, bei Überschreitung der Normalwerte Veränderung der inneren Organe, der Blutbildung, Multiple Sklerose oder Nervenschädigungen auslösen zu können. Betroffen sind auch Hausbewohner, die dem als Holzschutzmittel verwendeten Lindan über die Atemluft ausgesetzt sind.
Biozide Holzschutzmittel sind Nervengifte
Bedenkt man nun, dass derzeit mit milliardenschweren Förderprogrammen Häuser der 60er, 70er und 80er Jahre gedämmt – und damit luftdicht abgeschlossen – werden, dämmert möglicherweise die Dimension des Problems. Vielleicht noch mehr, wenn bekannt wird, dass sich durchschnittliche Bundesbürger zu mehr als 60 Prozent in Innenräumen aufhalten. Und dass diese Nervengifte – biozide Holzschutzmittel sind Nervengifte – stark verdächtigt werden, neurologische Erkrankungen wie Alzheimer, MS und Parkinson zu verursachen.
Der Bundesfachbeirat Umweltschutz und Normung der NaturFreunde Deutschlands hat der Bundesregierung das Problem bereits geschildert und um Aufklärung gebeten. Diese hat allerdings mitgeteilt, dass ihr scheinbar nicht bekannt sei, wie viele Haushalte betroffen sind. Dabei ergäbe die Anzahl der Baugenehmigungen zwischen 1956 und 1990 schon die Mindestsumme der belasteten Häuser. Offensichtlich wurde aufseiten der Bundesregierung bisher sehr oberflächlich gearbeitet. Angesichts der Dimension des Problems darf das nicht so bleiben.
Der Bundesfachbeirat Umweltschutz und Normung hat unter anderem auch gefragt, ob die Förderbedingungen für Dämmungen zukünftig ein vorheriges Schadstoffscreening vorsehen sollen und ob bis zur Klärung dieser Problematik die Wärmeschutzverordnung vorläufig außer Kraft gesetzt werden wird. Denn die Luftdichtheit der Wärmeschutzmaßnahmen schließt ja auch andere Immissionsquellen ein, etwa Flammschutzmittel, PCB oder Nanopartikel aus Tonerstäuben von Laserdruckern. Zudem: Werden die (hier sicherlich auch relevanten) Akten aus dem Xylamon-Prozess sicher verwahrt?
Bis zum Redaktionsschluss waren die Fragen nicht beantwortet. Nach Gesprächen mit der grünen Bundestagsfraktion hat diese auch eine Anfrage an die Bundesregierung gerichtet (Drucksache 18/5499). Die NATURFREUNDiN bleibt dran und wird das Thema in der Dezemberausgabe aufgreifen.
Karl-Jürgen Prull, Bundesfachbeirat Normung
Dieser Artikel ist zuerst erschienen in NATURFREUNDiN 3-2015