Umweltschützer*innen verklagen immer häufiger Staaten – zunehmend mit Erfolg
Angela Merkel wird der Prozess gemacht: Vor dem Internationalen Gerichtshof muss sich die Ex-Kanzlerin für unterlassenen Klimaschutz verantworten. Zumindest im Film: Ökozid spielt im Jahr 2034, an die Corona-Pandemie denkt kaum einer mehr, denn Dürren, Missernten, Überschwemmungen und Hurrikans peitschen über den Planeten. In einem provisorischen Interimsgebäude vertreten zwei Anwältinnen 31 Länder des globalen Südens.
Der Filmplott von Andres Veiel ist nicht unrealistisch, Klimaklagen gibt es längst. So wurden die Niederlande beispielsweise von der Umweltorganisation Urgenda verklagt, weil die Regierung nach Ansicht der Aktivist*innen zu wenig Klimaschutz betreibt. 2019 bekam Urgenda Recht, nach dem Urteil musste die Regierung ihre Klimaziele deutlich erhöhen. Ende 2020 hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg die Klage von sechs Jugendlichen aus Portugal zugelassen. Angeklagt sind Deutschland, die anderen 26 EU-Staaten sowie Großbritannien, Norwegen, Russland, die Schweiz, die Türkei und die Ukraine – jene Mitglieder des Europarates, die die höchsten Treibhausgas-Emissionen zu verantworten haben. Zu wenig Klimaschutz gefährde ihre Menschenrechte, argumentieren die Kläger*innen, sie wollen erreichen, dass die Länder mehr tun gegen die Klimaerhitzung.
Nicht die einzige „junge“ Initiative: 2019 reichten zum Beispiel 16 Jugendliche aus ver-schiedenen Ländern eine Individualbeschwerde gegen Deutschland, Argentinien, Brasilien, Frankreich und die Türkei beim UN-Kinderrechtsausschuss ein. Ihr Vorwurf: Mit ihren hohen Treibhausgas-Emissionen verletzen die fünf Staaten die UN-Kinderrechtskonvention – insbesondere das Recht auf Leben (Artikel 6) und das Recht auf Gesundheit (Artikel 24). Eine der Jugendlichen ist die schwedische Fridays-for-Future-Initiatorin Greta Thunberg. In Deutschland reichten Klimaschützer*innen Anfang 2020 Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht ein: Sie wollen erreichen, dass das Klimapaket aus dem Jahr 2019 ambitionierter werden muss.
Bislang wurden überwiegend Konzerne verklagt, seltener Länder. Saúl Luciano Lliuya zog beispielsweise gegen den Energiekonzern RWE vor Gericht, den größten deutschen Treibhausgassünder. Der peruanische Kleinbauer stammt aus den Anden, seine Heimatstadt liegt unterhalb eines Gletschersees, der durch die Eisschmelze bedrohlich angestiegen ist und den ganzen Ort bedroht. RWE soll 0,47 Prozent der Kosten für höhere Deiche und das Abpumpen des Schmelzwassers bezahlen. Die 0,47 Prozent entsprechen jenem Anteil, den RWE mit seinen Klimagasen weltweit zum Problem beiträgt. Das Oberlandesgericht Hamm hat die Klage angenommen, wegen der Corona-Pandemie musste die Beweisaufnahme vor Ort aber verschoben werden. 0,47 Prozent der Kosten sind für RWE nur Kleingeld. Wird der Konzern aber schuldig gesprochen, könnten andere Geschädigte folgen. Mit ClientEarth gibt es mittlerweile auch eine Organisation, die Klimaschützer*innen juristisches Know-How für ihren Kampf bereitstellt. Aktuell gibt es Büros in London, Brüssel, Warschau, Berlin und Peking mit Jurist*innen, spezialisiert auf Umweltrecht. Im Film Ökozid, den die ARD im November vergangenen Jahres ausstrahlte, wird Angela Merkel übrigens „schuldig“ gesprochen. Aber eben erst 2034.
Nick Reimer