Ein ungehaltener Redebeitrag von Michael Müller, Bundesvorsitzender der NaturFreunde Deutschlands, für den aufgrund der Corona-Krise abgesagten Ostermarsch in Bremen am 11. April 2020
"Wir leben am Rande des Friedens“, so beschrieb Siegfried Lenz bei der Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels den Zustand unserer Zeit. Heute mehr denn je. Auch in Europa erleben wir einen unfertigen und gefährdeten Frieden. Nicht allein, weil es zu einer Widerkehr des Irrsinns der Hochrüstung und des Abbaus der Rüstungskontrolle gekommen ist. Weil Gewalt in neuen, sogar globalen Formen auftritt, müssen wir auch unser Verständnis von Frieden weiter fassen.
Vor allem die ungebremste Erderwärmung löst Gewalt aus, die weit über begrenzte regionale Bedrohungen hinausgeht. Es ist eine privilegierte Gewalt, die viel mit Macht und Reichtum zu tun hat. Schon die Weltklimakonferenz von 1988 nannte die Gefahren, die durch die Schädigungen der Erdatmosphäre und die Aufheizung der Troposphäre eintreten werden, einen „langsamen Atomschlag“. Die Welt leidet an der Verachtung der Schöpfung, dem alltäglichen Egoismus und der Profitgier der Wirtschaft. Sie stirbt in ihrer heutigen Form langsam, aber das Ende des Lebens, so wie wir es kennen, wird vorstellbar.
Bis Mitte der 2040er-Jahre wird die globale Temperatur um 1,5 Grad und im Trend noch einmal 20 Jahre später um unvertretbare 2 Grad Celsius höher liegen gegenüber dem natürlichen Wert. Planetarische Grenzen werden überschritten, Kriege um Öl und Gas geführt. Gemessen an der biologischen Reproduktionsfähigkeit unseres Planeten nutzt die Menschheit schon heute 1,75 Erden im Jahr. Der „Welterschöpfungstag“ wurde 2019 Ende Juli erreicht.
Grenzen werden deutlich, denn seit der Industriellen Revolution hat sich die Weltbevölkerung verzehnfacht, der Ressourcen- und Energieeinsatz in der Industriestaaten pro Kopf verzwanzigfacht und die Eingriffstiefe in die Öko-Systeme nahezu verhundertfacht.
Doch die ökonomischen und ökologischen Folgen aus Raubbau und Überlastung werden noch über eine längere Zeit zeitlich, räumlich und sozial höchst ungleich verteilt sein. Denn die Hauptverursacher sind nicht die Hauptbetroffenen. Und auch diese Verschärfung der sozialen Ungleichheit wird massive, auch gewalttätige Konflikte auslösen.
Der Klimawandel schädigt besonders stark den afrikanischen Kontinent, der nur knapp fünf Prozent zur Erderwärmung beiträgt. Die Folgen sind eine Ausweitung von Dürrezonen, Wassermangel und Wetterextremen. Geschädigt werden zudem besonders die Deltas und Slums niedrig liegender, bevölkerungsreicher Küstenregionen und die pazifischen Staaten. Betroffen sind vor allem die ärmsten Weltregionen, die nur über geringe Möglichkeiten verfügen, sich anpassen oder gar schützen zu können. Die Opfer sind vor allem künftige Generationen, denn der globale Kapitalismus beseitigt Zug um Zug alle räumlichen und zeitlichen Widerstände, die bisher Schutzbarrieren aufgebaut haben.
Was in Europa sieben Jahrzehnte fast vergraben schien, kommt wieder zurück. Wenn es nicht sofort zu einer sozialen und ökologischen Wende kommt, gerät die Welt in einen tiefen Krisenmodus. Wir dürfen die schmerzhafte Unvollkommenheit des Friedens nicht ausschließlich als Nicht-Krieg definieren. Wir brauchen mehr als einen erklärten Verzicht auf Gewalt, wie er auch in der Charta von Paris verankert ist. Frieden braucht vor allem eine Weltinnenpolitik, sozial und ökologisch.
Doch die Kolonialisierung der Zukunft geht weiter, der Widerspruch zwischen dem Wissen über die globalen ökologischen Gefahren und dem Verdrängen im alltäglichen Handeln wird größer. Das ist nicht zuletzt begründet in der ebenso elitären wie fatalen Utopie hoch gesicherter grüner Oasen des Wohlstandes in einer zunehmend unwirtlichen Welt. Auch das holt uns ein – nicht nur in den schrecklichen Bildern von toten Kindern im Mittelmeer. Was ist das für eine verrückte Welt, in der nur zehn Länder der Erde für rund 75 Prozent der Rüstungsausgaben verantwortlich sind, die höher liegen als 1988?
Haben wir nichts gelernt? Dabei sind wir Mitwisser und oft auch die Mittäter dessen, was sich vor uns aufbaut. Gegen die Überlastung der Ökosysteme und die Endlichkeit unseres Planeten für menschliches Leben brauchen wir eine aktive Friedenspolitik statt der schleichenden Militarisierung der internationales Politik.
Abrüsten statt Aufrüsten!
Was wir brauchen ist eine Kultur des Friedens statt der Sprache der Macht – nach innen wie nach außen.
Michael Müller
Bundesvorsitzender der NaturFreunde Deutschlands