Vorfristig nimmt der angeschlagene Konzern Eon im Mai jenes Kraftwerk vom Netz, das einst Vorbild für das Schulbuch und den Film "Die Wolke" war
Da waren‘s nur noch acht: Mitte Mai will Eon sein Atomkraftwerk Grafenrheinfeld in der unterfränkischen Gemeinde Schweinfurt abschalten. Für immer. Und ganz freiwillig. Denn eigentlich hätte das AKW Grafenrheinfeld laut Atom-Ausstiegsbeschluss aus dem Jahr 2011 erst zum Jahresende vom Netz getrennt werden müssen. Macht Betreiber Eon jetzt einen auf Anti-Atom?
Nicht doch, nicht doch! Der Abschaltgrund ist ein ganz profaner. Der schwer angeschlagene Stromriese Eon will sich die Brennelementesteuer sparen. Im Mai nämlich wäre technisch ein Brennstabwechsel im Reaktor Grafenrheinfeld noch einmal fällig gewesen. Und damit hätte Eon pro Gramm Kernbrennstoff 145 Euro zahlen müssen – für Brennstäbe, die dann nach sechs Monaten auch noch teuer hätten entsorgt werden müssen. Die bayerische Staatsregierung hat ihre Zustimmung zum vorzeitigen Abschalten bereits gegeben – es drohe keine Versorgungslücke. Auch die Bundesnetzagentur hat bislang keine Einwände geltend gemacht.
Begonnen hatte alles 1969: Im August stimmte der Gemeinderat von Grafenrheinfeld dem Atomkraftwerks-Bau durch die Bayernwerk AG zu. Aber schon damals gab es Gegner der geplanten Atomanlage. 1972 gründeten die Aktivisten die „Bürgeraktion Umwelt- und Lebensschutz – Bürgerinitiative gegen Atomanlagen (BA-BI)“, die fortan gegen das AKW kämpfte – während der Bauzeit und auch danach.
Zehn Milliarden Kilowattstunden jährlich
Trotzdem ging der Druckwasserreaktor mit einer elektrischen Bruttoleistung von 1.345 Megawatt am 9. Dezember 1981 ans Netz. Durchschnittlich produzierte das AKW jährlich zehn Milliarden Kilowattstunden. Damit ist das AKW eines der größten der Welt. Die zwei weithin sichtbaren Kühltürme sind 143 Meter hoch, seit März 2006 gibt es ein Zwischenlager für abgebrannte Kernbrennstäbe.
Bis März 2011 musste die Betriebsleitung insgesamt 222 meldepflichtige Zwischenfälle anzeigen – die allermeisten allerdings auf niedrigem (also: ungefährlichem) Niveau. Den schlimmsten Zwischenfall erlebte das Atomkraftwerk Grafenrheinfeld in der Literatur: Die Autorin Gudrun Pausewang schilderte in ihrem 1987 erschienenen Buch „Die Wolke“ die Folgen eines schwerwiegenden Reaktorunfalls in Grafenrheinfeld. Hauptfigur Janna-Berta und andere Schüler und Lehrer werden vom Katastrophenalarm überrascht, die Autorin vergleicht in ihrem Vorwort die Atomenergie mit den Gefahren des Nationalsozialismus und forderte zum Widerstand gegen die „Atommafia“ auf. Das Buch verkaufte sich mehr als 1,5 Millionen mal, der Roman wurde zur Schullektüre und schließlich zum Filmstoff.
Nun geht Grafenrheinfeld also vom Netz. Gehen damit in Bayern – wie prognostiziert – tatsächlich die Lichter aus? Zumindest wird die bayerische Versorgungssicherheit in diesem Jahr zum Thema. Denn bis spätestens 2022 gehen auch alle restlichen AKW in Bayern vom Netz – die verbliebenen Reaktoren der Kraftwerke Gundremmingen und Isar.
Wie Bayern dann künftig zu seinem Strom kommt, darüber gehen die Meinungen von Bund und Land auseinander. Zumindest wird er wohl nicht nennenswert von heimischen Windkraftwerken stammen, da Bayern für sich die sogenannte 10-H-Regelung durchgesetzt hat. Demnach müssen Windräder in Bayern wenigstens doppelt so weit von jeder Wohnbebauung entfernt stehen wie im Rest der Republik. Weil das praktisch unmöglich ist, kommt der Windkraftausbau im Freistaat einfach nicht vom Fleck.
Während Bayern den Wegfall seiner AKW am liebsten vor Ort mit neuen Gaskraftwerken ausgleichen möchte, will die Bundesregierung neue Stromleitungen von Nord- nach Süddeutschland bauen, um im Norden überschüssigen Strom in den Süden zu transportieren. Gaskraftwerke sind derzeit wirtschaftlich nämlich nicht konkurrenzfähig und Bayern als wirtschaftliches Zentrum der Bundesrepublik soll ja nicht wirklich der Saft abgestellt werden.
Doch, doch: Regierungschef Horst Seehofer (CSU) will genau das. Der nämlich sträubt sich mit dem üblichen Populismus seiner CSU besonders gegen die geplante Nord-Süd-Trasse, die vom Nordosten Deutschlands bis ins bayerisch-schwäbische Augsburg führen soll. Dabei geht es vor allem um optische Gründe. Die EU hat deshalb jetzt empfohlen, den bayerischen Strompreis drastisch zu erhöhen. Scheitert das Trassenprojekt Südlink, dann dürften nicht alle deutschen Verbraucher für Mehrkosten herangezogen werden, die notwendig sind, um Bayern mit Strom zu versorgen.
Nick Reimer
Dieser Artikel ist zuerst erschienen in NATURFREUNDiN 1-2015.