Der unterschätzte Widerstand
Politik und Medien haben lange Zeit verkannt, welche Tragweite der zunehmende Widerstand in unserer Gesellschaft gegen die Freihandelsabkommen hat, gegen TTIP (EU – USA), CETA (EU – Kanada) und TiSA (Dienstleistungssektor). Dieser Widerstand ist zum Katalysator für die Kritik an der Wirtschafts- und Finanzpolitik geworden.
Vieles erinnert an die Entstehung der Friedensbewegung in den 1980er Jahren. Am Anfang stand der Krefelder Appell vom 16. November 1980. Er war ein Aufruf der westdeutschen Friedensbewegung an die damalige Bundesregierung, die Zustimmung zur Stationierung neuer atomarer Mittelstreckenraketen in Europa (Doppelbeschluss) zurückzuziehen und innerhalb der NATO auf eine Beendigung des atomaren Wettrüstens zu drängen. Der Appell wurde bis 1983 von über vier Millionen Bundesbürgern unterzeichnet.
Auch beim Freihandel wurde der Konflikt lange Zeit nicht zur Kenntnis genommen. Nun spitzt er sich zu, wird aber in erster Linie personalisiert. Im Zentrum der Berichterstattung stehen nicht die Gründe und Argumente der Ablehnung, auch nicht die Kritik an Bundeskanzlerin Angela Merkel und der Union, die die härtesten Befürworter der transnationalen Verträge in der Bundespolitik sind, sondern die Auseinandersetzung mit Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel und die um Zustimmung oder Ablehnung ringende Sozialdemokratie. Am 19. September soll ein SPD-Konvent eine Bewertung vornehmen, ob CETA die roten Linien, die von der SPD 2014 festgelegt wurden, überschreitet und dann abgelehnt werden muss.
Tatsächlich geht es um eine grundlegende Weichenstellung. Die Freihandelsabkommen sind nicht, wie Befürworter behaupten, notwendige Regulierungen angesichts der Globalisierung der Märkte. Wenn das so wäre, warum kommt es nicht zu Verhandlungen über ein faires Weltwirtschafts- und Welthandelssystem unter der Regie der UNO und der Einbeziehung aller Länder?
Warum geht es bei den Abkommen vor allem um Deregulierungen und unbestimmte regulatorische Verfahren statt um das Ziel, die Weltwirtschaft nachhaltig, also sozial und ökologisch dauerhaft verträglich zu machen? Dabei hatte der Erdgipfel von Rio de Janeiro Nachhaltigkeit schon 1992 zur gemeinsamen Leitidee der Weltgemeinschaft gemacht. Warum ist es eine „geschlossene Gesellschaft der Technokraten“, die derartige Verträge aushandelt und ohne jede Transparenz und Öffentlichkeit arbeitet?
Es geht nicht um einen fairen Freihandel, sondern um eine Fortsetzung der Deregulierungsideologie, die in den Abkommen als „Beseitigung von Handelshemmnissen“ getarnt wird. Die Ursprünge für CETA, TTIP und TiSA stammen aus der Zeit vor der globalen Finanzkrise, in der die Politik über die Finanzmärkte in Geiselhaft genommen wurde. In ideologischer Kontinuität geht es noch immer um eine harte Machtpolitik zugunsten großer transnationaler Wirtschaftsinteressen. Leidtragende sind nicht nur Entwicklungs- und Schwellenländer, nicht nur Umwelt, Landwirtschaft und Sozialleistungen, sondern auch Klein- und Mittelbetriebe und die Daseinsvorsorge. Und generell die demokratische Kultur unseres Landes.
Zu Recht findet diese Ideologie heute – acht Jahre nach der Finanzkrise – in der Bevölkerung keine Mehrheit (mehr), dennoch hält die Bundesregierung an ihr fest. Die über 30 Organisationen, die den Protest gegen die Freihandelsabkommen organisieren, fragen, wann sie endlich aus den Lehren der Finanzkrise die richtigen Schlüsse zieht.
Die Freihandelsabkommen werden von den Befürwortern als notwendige Antwort auf die Herausforderungen der Globalisierung hingestellt. Tatsächlich sind sie eine Anpassung an hochmonopolisierte, transnationale Unternehmensinteressen. Die klassische Theorie des Freihandels stellt zwar bei Adam Smith (1723–1790) den absoluten Kostenvorteil des Freihandels heraus und bei David Ricardo (1772–1823) den komparativen Kostenvorteil, aber beide gehen im Gegensatz zu TTIP, CETA und TiSA von der nationalen Souveränität aus. Dabei werden schon Smith und Ricardo kritisch gesehen. Joseph Schumpeter (1883–1950) sprach von „ricardinischen Lastern“, John Maynard Keynes (1883–1946) zeigte detailliert die Fehlannahmen und Schwächen der Freihandelstheorie auf.
Die Gestaltung der Globalisierung kann nicht so aussehen, dass man erstens alle Märkte so weit wie möglich öffnet, zweitens alle Regulierungsmöglichkeiten, auch die im öffentlichen Interesse, unter den Vorbehalt stellt, dass dadurch keine „Handelshemmnisse“ entstehen dürften, und drittens eine Paralleljustiz mit exklusiven Klagerechten für ausländische Investoren einführt. Das aber ist die Linie nicht nur von TTIP, sondern in abgeschwächter Form auch von CETA, insgesamt ein lukratives Beschäftigungsprogramm für teuer bezahlte Anwaltskanzleien, die viel Geld an der Unbestimmtheit des Freihandelsabkommens verdienen.
Die Politik muss endlich zur Kenntnis nehmen, dass es um eine sozial-ökologische Transformation geht. Deshalb ist es gut, dass nunmehr die Regierungspartei SPD einen Schlussstrich unter TTIP ziehen will und wachsende Teile auch unter CETA und TiSA. SPD-Chef Sigmar Gabriel hat eingesehen, dass zumindest TTIP falsch ist. Nicht nachvollziehbar ist jedoch, dass er sich für CETA stark macht. Natürlich gibt es zwischen beiden Verträgen Unterschiede, so wie es auch zwischen den beiden jeweiligen Vertragspartnern USA und Kanada politische und wirtschaftliche Unterschiede gibt. Aber im Grundmuster entspringen beide Abkommen dem neoliberalen Ungeist der Deregulierung.
Keine Paralleljustiz schaffen
Kanada und die Mitgliedsländer der EU sind Rechtsstaaten. Eine Diskriminierung ausländischer Investoren ist in keinem dieser Länder bekannt, wohl aber fragwürdige, aggressive Praktiken einiger Unternehmen. Meist geht es um die Einhaltung von Sozialstandards und Umweltrechten, um die Autonomie der Gerichte, um den Verbraucherschutz oder die Informationsrechte der Bevölkerung. Wenn Investoren auf Hindernisse für ihre Geschäftstätigkeit stoßen sollten, dann nur auf solche, die auch inländische Investoren betreffen.
Kanadische Bergbaukonzerne sind beispielsweise weltweit als sehr klagefreudig gegenüber ihren Gaststaaten bekannt. Schon von daher gibt es keinen Grund, einer Paralleljustiz zuzustimmen, die ein unabsehbares finanzielles und politisches Risiko schafft. Die Gerichte funktionieren, neue sind nicht notwendig. Dabei spielt es nur eine untergeordnete Rolle, dass bei CETA erstmals ein sogenannter Investitionsgerichtshof eingerichtet werden soll. Nach wie vor gibt es keine Begründung für die Einführung einer Paralleljustiz, die ursprünglich für Investitionsschutzverträge mit Ländern mit erheblichen rechtsstaatlichen Defiziten erfunden wurde. Welcher der beteiligten Staaten soll das sein?
Wer der Meinung ist, dass es für Investitionen multinationaler Konzerne auch in demokratischen Rechtsstaaten einer gesonderten internationalen Vereinbarung bedarf, sollte stattdessen die Verhandlungen im Rahmen der Vereinten Nationen über einen Vertrag unterstützen, der neben Rechten auch Pflichten multinationaler Unternehmen definiert: das heißt nicht nur Unternehmen Klagerechte einräumt, sondern auch die Möglichkeit schafft, ausländische Investoren zu verklagen. Diese Linie hat im letzten Jahrzehnt Heidemarie Wieczorek-Zeul verfolgt, die ehemalige Bundesministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit.
Öffentliches Interesse wird Renditeerwartungen geopfert
Die Zukunft der Landwirtschaft liegt nicht darin, immer stärker auf Weltmärkte zu setzen, sondern die Region zu stärken. Ein fairer Wettbewerb ist notwendig, um am Markt die Kosten für gesellschaftlich gewünschte Leistungen (Bio-Produkte, langlebige Qualitätswaren, Tierschutz und Umweltschutz) erwirtschaften zu können. Nur so kann auch eine bäuerliche Landwirtschaft überleben. CETA würde das dagegen noch schwieriger machen.
CETA schränkt auch den Gestaltungsspielraum ein, für die Bürgerinnen und Bürger umfassende qualitative, effiziente und kostengünstige Leistungen der Daseinsvorsorge zu erbringen. Letztlich geht es bei CETA darum, öffentliche Dienstleistungen in einer Marktlogik kommerziellen Interessen unterzuordnen, die eben nicht im Interesse der Bürgerinnen und Bürger liegen. Einen vernünftigen Grund gibt es nicht, in der EU öffentliche Dienstleistungen für die Renditeerwartungen privater kanadischer Anbieter verpflichtend zu öffnen – und umgekehrt wäre das auch in Kanada falsch. Der Maßstab muss das Gemeinwohl sein und nicht die Profitinteressen weniger.
Wachsende europäische Kritik an CETA
Die Kritik an CETA wächst europaweit weiter an. In Belgien haben bereits die Parlamente von Wallonien und der Hauptstadtregion Brüssel – deren Zustimmung nicht nur für die belgische Ratifikation, sondern auch für eine Zustimmung im Europäischen Rat zwingend erforderlich ist – mit großer Mehrheit beschlossen, diese Zustimmung zu verweigern. In den Niederlanden ist eine Volksabstimmung zu CETA in Vorbereitung, an deren negativem Ausgang wenig Zweifel besteht. Die Regierungen und Parlamente in Slowenien, Österreich, Luxemburg, Ungarn, Rumänien und Bulgarien haben deutliche Vorbehalte zum Ausdruck gebracht und die Zustimmung an Bedingungen geknüpft, die kaum erfüllbar sind. Auch die Zustimmung des deutschen Bundesrats ist angesichts der Abhängigkeit von grünen Koalitionspartnern fraglich.
Die EU-Bürokratie muss also bei den Verhandlungen vorsichtig sein. Das betrifft insbesondere die von Brüssel geforderte „vorläufige Anwendung“ von CETA. Sie wäre Wasser auf die Mühlen der EU-Gegner und muss vor dem Hintergrund der schwersten Vertrauenskrise der EU seit ihrer Gründung gesehen werden.
In einer Schlüsselsituation
Wir müssen unter die Oberfläche gucken, sonst bleiben wir blind für das, was wirklich vor sich geht, für die richtige Deutung der längerfristigen Entwicklungstendenzen. Sowohl in der Auseinandersetzung um die Freihandelsverträge und insgesamt bei der Gestaltung der globalen Epoche des Anthropozän, darf es nicht um interessengeleitete Ideologien gehen. Nicht um den Rückfall in die Deregulierung, wo es um eine neue und innovative Qualität von Regulierung gehen müsste. Und auch nicht um den Pessimismus selbsternannter Revolutionäre oder ewig gestriger Reaktionäre.
Tatsächlich erleben wir heute einen Zusammenprall zweier Epochen, des bisherigen nationalstaatlichen Wachstumsmodells und der globalen, zeitlich und räumlich entgrenzten Welt. In dieser treten die sozialen Unterschiede und ökologischen Grenzen (Überlastung der Senken und Ressourcenabbau) umso deutlicher zutage. Bei Keynes hieß das 1930 in der Bewertung der Weltwirtschaftskrise: „Uns plagt nicht nur Altersrheuma, wir leiden an den Wachstumsschmerzen eines überschnellen Wandels, an den schmerzhaften Anpassungsprozessen im Übergang von einer Wirtschaftsperiode zu einer anderen“, deren Gesetze noch nicht geschrieben sind.
Heute zeigt sich die Reaktion auf den Epochenwechsel in drei unterschiedlichen Hauptströmungen – erstens der Anpassung an die globalen Zwänge, die vor allem von der Bundesregierung und den sie tragenden Parteien vertreten wird; zweitens der Ablehnung der Globalisierung, die vor allem in Stimmungen, autoritären Ausgrenzungen und nationalistischen Parolen zum Ausdruck kommt und politisch zum Aufstieg der AfD beigetragen hat, drittens der gesellschaftlichen Bewegung, die nicht nur die Freihandelsabkommen ablehnt, sondern wie die NaturFreunde eine sozial-ökologische Gestaltung der Globalisierung fordert.
Die Auseinandersetzungen um die Freihandelsabkommen sind von daher eine Chance, zu einer Repolitisierung der öffentlichen Debatte zu kommen. Darin liegt auch eine Chance zur Rehabilitation der Politik. Die Debatte lohnt sich!