Die Zeitmaschine steht in Offenbach, Frankfurter Straße 135. Hier hat der Deutsche Wetterdienst seinen Hauptsitz. Fast einen ganzen Häuserblock nimmt das moderne Bürogebäude ein, sechs Stockwerke hoch. Im Erdgeschoss arbeitet, aufwendig gesichert, der Zentralcomputer. Mit ihm kann man in die Zukunft schauen: für ein paar Tage, also auf das Wetter von übermorgen im Schwarzwald oder im Sauerland. Aber auch auf das Klima in Deutschland im Jahr 2050: Unser Mitgliedermagazin NATURFREUNDiN bekam eine Audienz.
Mit einer Chipkarte öffnet Pressesprecher Uwe Kirsche eine schwere Glastür. Ein paar Meter weiter eine Zweite. „Das hier ist Hochsicherheitsgebiet“, sagt Kirsche. Eine Zugangsberechtigung zum Deutschen Meteorologischen Rechenzentrum, so der offizielle Titel, bekommt man nur nach einer intensiven Überprüfung – unter anderem durch den Bundesnachrichtendienst. Gegen unseren Reporter lagen aber keine Bedenken vor. Die Erkenntnisse besprach er danach mit weiteren Experten. Aus Offenbach berichtet Nick Reimer:
Hitze
Bundesrepublik Heißland: Gemäß der Klimamodellierung des Deutschen Wetterdienstes (DWD) wird Deutschland Mitte des Jahrhunderts zwei Grad wärmer sein als im 19. Jahrhundert. Sommertage mit mehr als 30 Grad werden dann völlig normal sein, die Spitzentemperaturen 40 Grad überschreiten, die Zahl der tropischen Nächte wird sich verdoppeln – Nächte, in denen die Temperatur nicht mehr unter 20 Grad sinkt.
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Besonders betroffen sein werden laut der DWD-Berechnung der Südwesten von Freiburg bis Mainz entlang des Rheins, der Südosten von der Lausitz bis in die Leipziger Tieflandbucht, die Kölner Bucht und das Ruhrgebiet. In Köln wird Ende des Jahrhunderts ein Klima herrschen wie heute in San Marino. In Berlin wird es sich anfühlen wie heute im südfranzösischen Toulouse, München bekommt klimatische Zustände wie heute in Mailand, Hamburg wie derzeit das Hitze spanische Pamplona. Gleichzeitig werden die Frosttage stark abnehmen: Die Zahl der Tage, an denen das Thermometer unter Null sinkt, wird im Schwarzwald, im Harz oder im Erzgebirge um bis zu einhundert Tage sinken. Die Winter werden milder und kürzer. Eiswein aus Deutschland wird es Mitte des Jahrhunderts nicht mehr geben – einfach weil in den deutschen Weingebieten die Frosttage fehlen.
Waldsterben
Nach dem ersten Dürresommer 2018 verschickte der Nationalpark Hainich eine Pressemeldung. Darin erklärte Leiter Manfred Großmann, sein naturnaher Buchenwald käme mit dem Hitzestress viel besser zurecht als andere Forste. Zwei Jahre später sagte er: „Ich habe mich geirrt!“ Großmann wollte damals seine Aussage als Aufmunterung zum Waldumbau verstanden wissen. Denn dass die Fichte, Deutschlands häufigster Baum, verschwindet, ist längst klar: Zu durstig ist der „Tann“, der aus dem Norden kommt und es kühl und feucht mag.
Hitze, Dürre, Schädlinge wie der Borkenkäfer: Die Veränderungen haben längst begonnen: Forstexperte Joachim Rock vom Thünen-Institut sagt: „Bei 450 Litern Niederschlag pro Jahr gibt es eine Grenze für den Wald.“ Zumindest für den, den wir heute kennen. Eichen, Buchen oder Kiefern: In wenigen Jahrzehnten wird es für etliche Standorte zu trocken und zu heiß sein – im Süden Brandenburgs, jeweils im Norden von Sachsen und Sachsen-Anhalt, zudem im Norden und Süden von Bayern, im Süden von Hessen und Rheinland-Pfalz, in Baden-Württemberg.
Aber irgendetwas wird doch auch künftig wachsen? Es wächst doch immer irgendetwas! Manfred Großmann sagt: „Jedenfalls wird Wald nicht mehr das produktive Biotop sein mit seinen 30, 40 Meter hohen Bäumen.“ Und Hans-Werner Schröck von der Forschungsanstalt für Waldökologie in Rheinland-Pfalz erklärt: „Die Zukunft unserer Wälder könnte so aussehen, wie Urlauber heute Wald im Süden Europas erleben.“
Dürre
In Deutschland gibt es genug Wasser für alle – diese Gewissheit gilt in wenigen Jahren nicht mehr. Das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe warnt in einer Risikoanalyse, „lange Dürreperioden (insbesondere verbunden mit Hitzewellen) können zu Problemen bei der Versorgung der Bevölkerung mit Trinkwasser führen“. Michael Ebling, Präsident des Verbandes kommunaler Unternehmen: „Wir müssen uns wahrscheinlich auf regional harte Nutzungskonflikte einrichten.“
Wenn es heiß ist, verbrauchen die Menschen mehr Wasser. Neu im Verteilungskampf ist die Landwirtschaft. In der Vergangenheit mussten Bauern in Deutschland ihre Felder kaum bewässern. Dürre ist seit den Trockenjahren 2018, 2019, 2020 in Deutschland zur Gewissheit geworden: Laut dem Dürremonitor des Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung sind aktuell Teile der Lausitz, des Fläming, die Magdeburger Börde, Oberbayern und rund um Usedom in der entscheidenden Bodentiefe von 1,80 Metern immer noch von extremer Dürre betroffen.
Überschwemmung
Andererseits wird es 2050 zu viel Wasser geben. „Lokale Starkregenereignisse verbunden mit Sturzfluten sowie Dauerregen verbunden mit großflächigen Überschwemmungen werden intensiver und häufiger“, heißt Dürre Überschwemmung es in einer Studie des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung. „Normaler Landregen, wie wir ihn heute noch kennen, wird in Zukunft die Ausnahme sein“, sagt Andreas Becker vom Deutschen Wetterdienst (DWD).
Sommerlicher Niederschlag geht Mitte des Jahrhunderts stattdessen als Sturzflut nieder, sanfte Bäche verwandeln sich dann in reißende Ströme, die ganze Ortschaften verwüsten – so wie beispielsweise 2015 Tangerhütte im Norden Sachsen-Anhalts, 2016 das bayerische Simbach, 2017 Goslar in Niedersachsen, 2018 Dudeldorf in der Eifel, 2019 Kaufungen nahe Kassel oder 2020 das fränkische Herzogenaurach und im Juli die Orte in Westdeutschland.
Doch nicht nur lokale Starkregenereignisse nehmen zu. „Tief Mitteleuropa“ nennen Meteorologen eine Wetterlage, die großflächig lang anhaltende Regenfälle in unser Land bringt. Seit den 1950er-Jahren ist diese Wetterlage bereits rund 20 Prozent häufiger geworden, bilanziert der Deutsche Wetterdienst. Bis zum Jahr 2100 wird ihre Zahl etwa noch einmal so stark steigen.
Ein „Tief Mitteleuropa“ beschert Unwetter wie 2013 an der Donau und anderen Flüssen ein Jahrhunderthochwasser. In Passau stieg der Pegel auf 12,89 Meter, der höchste Stand seit 500 Jahren. „Tief Mitteleuropa“ löste die Unwetter im Mai 2016 aus. Besonders betroffen war damals Süddeutschland, elf Menschen verloren ihr Leben. Ein Jahr später sorgte ein „Tief Mitteleuropa“ im Harz und seinem Umland für schwere Verwüstungen, Flüsschen wie die Oker und die Nette verzeichneten Jahrhunderthochwasser.
Derzeit droht „Tief Mitteleuropa“ durchschnittlich an neun bis 15 Tagen im Jahr. „Die Zahl der Tage schwankt von Jahr zu Jahr sehr stark“, sagt DWD-Meteorologe Thomas Deutschländer. Aber alles deute darauf hin, dass sie zunehmen.
Kälte / Schnee
Das klingt paradox: Die Klimaerhitzung wird uns wärmere Winter bringen. Manchmal aber wohl auch sehr viel Kältere mit sehr viel Schnee. Grund für Ersteres ist der sich abschwächende Jetstream: Dieser Höhenwind mäandert auf der Nordhalbkugel und bestimmt so unser Wetter. Angetrieben wird der Jetstream durch die Temperaturdifferenz zwischen Nordpol und Äquator. Allerdings erwärmen sich die Pole stärker als der Rest der Welt, die Temperaturdifferenz sinkt und dadurch die Antriebskraft. Deshalb verändert der Klimawandel die Strömungsverhältnisse der Nordhalbkugel, und zwar so, dass Kälteeinbrüche bei uns häufiger werden.
Mehr Schnee beschert uns das tauende Eis im arktischen Ozean: Wie ein Deckel auf dem Ozean wirkt dieses Meereis und verhindert, dass das Wasser darunter in die Atmosphäre verdunstet. Friert die Barentssee nördlich der russischen und norwegischen Küste im Winter nicht mehr zu, fehlt dieser Deckel. Es verdunstet mehr Wasser und das führt bei uns zu extremen Wetterereignissen.
Gesundheit
Mit steigenden Temperaturen werden in Deutschland auch Krankheitserreger aus anderen Erdteilen heimisch: Dengue- oder West-Nil-Fieber werden Mitte des Jahrhunderts keine Seltenheit in unseren Breiten mehr sein. Zecken, die Erreger wie Borreliose-Bakterien oder FSME-Viren übertragen, fühlen sich dann in unseren Wäldern sehr wohl. Auch die Asiatische Tigermücke findet hier dann beste Lebensbedingungen, ein Überträger tropischer Krankheiten.
Doch es wird nicht nur mehr Infektionskrankheiten geben: Vor allem alte Menschen werden unter zunehmender Hitze leiden. Bereits im Hitzesommer 2003 starben hierzulande 7.000 Menschen zusätzlich an Hitze, in den Hitzesommern 2018 bis 2020 gab es mehr Opfer als im Straßenverkehr. Schon im jetzigen Klima gibt es im Sommer in Berlin durchschnittlich 1.400 Hitzetote. Zum Vergleich: Im Berliner Straßenverkehr kommen im Jahresschnitt rund 65 Menschen ums Leben – Hitze ist also etwa 22-mal tödlicher.
Landwirtschaft
Bäuer*in: Das ist ein Beruf, der ausstirbt. Die Kühe auf die Weide treiben? Mit dem Traktor aufs Feld tuckern? 2050 wird es das so nicht mehr geben. Einerseits ist daran die Klimaerhitzung schuld: Sie treibt bereits heute immer mehr Bäuer*innen in den Ruin. Andererseits sorgt die technische Antwort auf die Folgen der veränderten Anbaubedingungen für ein Aus des Berufsstandes: Der 300-PS-Diesel-Traktor ist im Jahr 2050 Geschichte.
Toralf Staud, Nick Reimer: Deutschland 2050
Kiepenheuer & Witsch, 2021
384 Seiten
ISBN 9783462000689
18 Euro
„Stattdessen übernehmen paketgroße mobile Geräte diesen Dienst, 15 Stück im Schwarm mit jeweils 20 PS, elektrisch betrieben mit Sonnenenergie vom Dach der Scheune“, erklärt der Geoökologe Claas Nendel. 2050 müsse nämlich viel kleinteiliger angebaut werden, so der Forscher vom Zentrum für Agrarlandschaftsforschung: „Auf den trockenen Kuppen werden trockenresistentere Pflanzen ausgesät, in den feuchteren Niederungen dagegen anspruchsvollere Sorten.“ Also alles durcheinander auf einem Feld: Die autonomen Erntemaschinen würden das jeweilige Getreide erkennen und sortieren.
Milchkühe geraten bei mehr als 24 Grad Celsius unter Hitzestress, die Milchleistung sinkt deutlich. Deshalb wird der voll klimatisierte Stall entwickelt, ein Glasbau, der zudem die Methangase auffängt, die Kühe ausscheiden. Apps gegen die zunehmende Anzahl von Schädlingen, Sensoren, die die Bodenfeuchte messen und großflächige Beregnung: Die Digitalisierung als Antwort auf den Klimawandel, aus Bäuer*innen werden Agraringenieur*innen.
Wirtschaft
Dachdecker*in im Sommer 2050? „Man spürt die Hitze sogar durch die Schuhsohlen“, sagte 2019 der Kölner Meister Martin Weihsweiler, 20 Leute arbeiteten für seine Firma. Damals hatte er ein Thermometer dabei, im Schatten zeigte es 35 Grad. Direkt auf der schwarzen Bitumen-Dachoberfläche sind es teils über 70 Grad. Mitte des Jahrhunderts wird das keine Ausnahme mehr sein: Schlechtwettergeld muss dann im Sommer gezahlt werden, weil viele Menschen ihrem Beruf dann nicht mehr nachgehen können (im Süden wurde deshalb die Siesta eingeführt).
Die deutsche Wirtschaft wird vor allem international leiden: Unwetterkatastrophen in anderen Teilen der Welt werden die Lieferketten durcheinanderwirbeln, Staaten die heute noch „Made in Germany“ kaufen, werden derart gebeutelt, dass sie sich das nicht mehr leisten können. Und die Leichtbauhallen in den deutschen Gewerbegebieten heizen sich derart auf, dass Arbeiten darin im Sommer Mitte des Jahrhunderts oft nicht mehr möglich sein wird.
„Wir Menschen sind trainiert auf Wirkungen, die hier und jetzt und gleich passieren“, sagt der Risikoforscher Ortwin Renn. Würden wir jetzt den schärfsten Klimaschutz umsetzen, den Klimawandel stoppte das nicht unverzüglich. Denn Treibhausgase brauchen in der Atmosphäre viele Jahrzehnte, bis sie sich zersetzen. „Da wird ein Teil der Gesellschaft schnell ungeduldig.“
Demokratie
Wozu schließlich den ganzen Aufwand, wenn sich nichts bessert. Renn fürchtet, dass die politischen Ränder stärker werden. „Man kann sich sowohl einen Klima-Diktator vorstellen als auch einen, der Schluss macht mit Klimaschutz.“ Der Kampf um die Demokratie werde „mit Sicherheit kein einfacher Kampf.“ Andere Regionen der Welt werden stärker unter der Klimaerhitzung leiden. Renn befürchtet eine Zerreißprobe für Europa, „wie wir sie uns bisher nicht vorstellen können.“ Denn verglichen mit heute werde die Zahl der Flüchtlinge stark ansteigen. „Diese Kombination aus weltweiter Migration und Etablierung eines rechtspopulistischen Autoritarismus in wohlhabenderen Staaten – das ist, was mich am Klimawandel am meisten beängstigt.“
Gewissheit
Früher hieß es: „In den Wald gehen ist gesund.“ Aus der Vergangenheit ließen sich Erfahrungen ableiten, die sinnvollerweise unser Handeln bestimmen. Doch der Klimawandel entwertet dieses über Jahrhunderte angesammelte Wissen. In den Wald zu gehen kann zum Beispiel sehr ungesund sein: Wegen der gestiegenen Temperaturen haben sich die Zecken in unseren Wäldern ausgebreitet. Zecken übertragen Erreger wie Borreliose-Bakterien oder FSME-Viren, letztere können zu gefährlichen Gehirnentzündungen führen. Im Jahr 2020 erreichte die Zahl der FSME-Fälle in Deutschland mit 704 einen Höchststand, das Robert-Koch-Institut hat bereits die Hälfte aller Landkreise zu Risikogebieten erklärt. Wann eine Landwirt*in aussät, wie und wo man sein Haus baut, wo eine Gesellschaft Städte ansiedelt und wie sie diese organisiert – der Klimawandel wird eine radikale Entwertung menschlichen Erfahrungswissens bringen.
Nick Reimer