Eine Mahnung von Michael Müller, Bundesvorsitzender der NaturFreunde Deutschlands
Vor 35 Jahren, am 26. April 1986, kam es im Block 4 der ukrainischen Atomzentrale von Tschernobyl, zu dem größten (nicht-) angenommenen Unfall (GAU) in der zivilen Nutzung der Atomkraft. Der graphit-moderierte Siedewasserreaktor mit einer elektrischen Leistung von 1.000 Megawatt geriet bei einem leichtsinnig durchgeführten Experiment außer Kontrolle. Vorausgegangen war eine Kette von Fehlern, Überforderung und Schlamperei.
Durchgeführt wurde an diesem Tag ein sogenannter TSA-Versuch, der einen Spannungsabfall simuliert. Das ist eine Situation, die in der Praxis durchaus vorkommen kann, um die mechanische Auslaufenergie für den Betrieb von zwei Hauptkühlpumpen zu nutzen, bis die Dieselaggregate der Notstromversorgung hochgefahren sind. Ein derartiger Test gehört zur Betriebsgenehmigung des Reaktors. Doch der verantwortliche Ingenieur ging höchst fahrlässig vor. Der Dieselgenerator fiel rapide ab, im Rektor stieg die Leistung rapide an. Es begann eine „Vergiftung“ des Reaktors.
In nur vier Sekunden stieg die Reaktorleistung um ein Vielfaches an. Als eine Schnellabschaltung eingeleitet wurde, war es zu spät. Die Brennstäbe konnten nicht mehr zurückgefahren werden, die Kanäle waren schon deformiert. Laute Schläge waren zu hören. Wasser gelangte in den Reaktorraum, der völlig überhitzt war. Um 1:23 Uhr und 58 Sekunden kam das Ende: Eine gewaltige Dampfexplosion hob das Dach des Reaktorgebäudes an, unmittelbar darauf kam es zu einer zweiten Explosion.
Rund 50 Tonnen Kernbrennstoffe verdampften und stiegen als radioaktive Wolke auf, die grenzenlos kreuz und quer über Europa zog. Die Menge der radioaktiven Nuklide war relativ hoch, deutlich mehr als beim GAU im japanischen Fukushima und dem Bundesumweltministerium zufolge ungefähr das Zehnfache der Hiroshima-Bombe. Erst ab dem 11. Tag nach der Explosion gingen die radioaktiven Werte zurück. Um den Reaktor abzudichten, wurde rund 200.000 sogenannter Liquidatoren eingesetzt, von denen viele das mit ihrem Leben bezahlten.
Die Supermacht UdSSR wollte die Katastrophe vertuschen. Sie war nicht nur ein gigantisches Unglück, sondern wurde auch zu einem politischen und moralischen Desaster. Der Ministerrat gab erst fast zwei Tage später eine dürre Erklärung heraus: „Im Kernkraftwerk von Tschernobyl hat sich eine Havarie ereignet. Es werden Maßnahmen zur Beseitigung der Folgen eingeleitet.“
Im 120 Kilometer entfernten Kiew fand am 1. Mai sogar noch die Mai-Parade statt, obwohl der Wind vom Ort der Katastrophe her wehte. Die Menschen wurden in erster Linie über das Ausland informiert, wo erschreckend hohe Strahlenwerte gemessen wurden. Im Kraftwerk selbst waren nur völlig unzureichende Dosimeter vorhanden, die den Beschäftigten eine Scheinsicherheit vorgaukelten. Das einzig taugliche Messgerät war in einem Tresor eingeschlossen.
In der Folge wurden in der Ukraine und in Russland mehr als 2.600 und in Weißrussland fast 7.000 Quadratkilometer zur Sperrzone gemacht, 600.000 Menschen wurden zwangsevakuiert, 300.000 von ihnen verloren dauerhaft ihre Heimat. In der Ukraine und besonders in Weißrussland, wo rund 70 Prozent des radioaktiven Fallout niederging, stieg die Krebsrate rasant an, insbesondere bei Kindern. Tschernobyl-AIDS, wie die Zerstörung der Körperabwehr genannt wurde, nahm rasant zu. Nach den meisten Schätzungen starben bis zu 93.000 Menschen, offiziell wird bis heute von Moskau aber nur die Zahl der Opfer mit 31 angegeben.
Tschernobyl war der Einschnitt in der Nutzung der Atomenergie. Doch selbst diese Katastrophe führte 1986 nicht zu einem Umdenken der Regierungsparteien CDU/CSU und FDP. Dafür löste sie in der Bevölkerung ein dauerhaftes Umdenken aus. Die Wolke von Tschernobyl wurde zum Symbol für menschliches Versagen, für ein wahnsinniges Spiel mit dem Feuer. Auch wenn die Eintrittswahrscheinlichkeit gering ist, ist sie doch real. Und die zweite Komponente der Sicherheitsbewertung, der Schadensumfang, ist auf keinen Fall zu verantworten. Dennoch haben bis heute viele Staaten nichts daraus gelernt. Die menschliche Hybris ist noch immer mit der Atomenergie verbunden.
Sie markiert den Wendepunkt von der ersten zur zweiten Moderne. War die erste Moderne eine Zeit berechenbarer und damit beherrschbarer Risiken, ist die zweite die Rückkehr nicht versicherbarer Gefahren. Das ist nicht nur eine Frage der Atomkraft, auch die globale Klimakrise gehört in die Kategorie. Also geht es darum, das ist die Mahnung von Tschernobyl, nicht nur einzelne Gefahren zu sehen, sondern die Herausforderung zu bewältigen, dass die Menschheit jenseits von Technikgläubigkeit und Wirtschaftswachstum eine neue Idee des gesellschaftlichen Fortschritts braucht.
Michael Müller
Bundesvorsitzender der NaturFreunde Deutschlands