Im höchsten Mittelgebirge Europas: schroffe Steilhänge und ein großes Plateau
Man muss nur hochkommen! Wer erst einmal das Plateau des Riesengebirges erklommen hat, der glaubt nicht mehr, sich im höchsten Mittelgebirge Europas zu bewegen. Hier, auf 1.350 Höhenmetern, wellt sich sanft die Berglandschaft, gepudert mit Latschenkiefern und alpinen Gesteinshalden.
Es gibt nur wenige Erhebungen in diesem Plateau und diese wenigen legen keinen Wert aufs Herausragen: Mal schlängelt sich der Weg vielleicht 90 Höhenmeter hinauf zur Kesselkoppe (Kotel, 1.435 Meter über dem Meeresspiegel), mal nimmt er einen sanften Bogen auf die Śmielec, die 1.424 Meter hohe „Große Sturmhaube“.
Eine Ausnahme bildet die Sněžka, die Schneekoppe: Steile Serpentinen führen auf den höchsten Gipfel des Riesengebirges, mit 1.602 Höhenmetern überragt er alles und bietet bei geeignetem Wetter einen fantastischen Rundblick. Weniger geübte Wanderer haben hier Gelegenheit, der Europäischen Union ein Loblied zu singen: Die Schneekoppe ist Grenzgebiet zwischen Polen und Tschechien, der steile Weg ist der auf tschechischer Seite. Die Polen aber betreiben auf der Schneekoppe eine meteorologische Station, ein Gebäude, das aussieht, als sei soeben ein UFO gelandet. Für die Versorgung der Station gibt es einen sanften, leicht ansteigenden Weg, der auch mit dem Fahrrad befahrbar ist.
Zentraler Bereich des Riesengebirges ist der 56 Quadratkilometer große „Karkonoski Park Narodowy“ – der Nationalpark Riesengebirge. Die Wanderwege sind gut ausgebaut und markiert, es sind keine besonderen Ausrüstungen notwendig. Als Ausgangspunkte für schöne Tagestouren bieten sich Špindlerův Mlýn, Pec, Rokytnice und Harrachov sowie das polnische Karpacz an. Als Kartenmaterial sei die Wander- und Skikarte Krkonoše im Maßstab 1:25.000 empfohlen (ISBN 9788088196075), die es vor Ort auch überall zu kaufen gibt. Der Kurs der tschechischen Krone liegt bei etwa 25,5:1 zum Euro.
Früher, also vor dem EU-Beitritt Polens und Tschechiens, mussten die Tschechen (und ihre deutschen Gäste) den steilen Weg nehmen. Grenzer sorgten für die strikte Einhaltung der Staatsgrenzen. Dank des Schengenabkommens kann heute jeder selbst für sich entscheiden, ob er es steil oder lieber gemütlich will.
Wie gesagt: Man muss nur erst mal hochkommen! Bis aufs Plateau des Riesengebirges gilt es nämlich schroffe Steilhänge zu durchsteigen. In der Regel starten die Wanderer auf 750 Metern Höhe, in Špindlerův Mlýn, Harrachov oder im polnischen Karpacz. Hier in der Hügellands-Vegetationsstufe lassen sich noch Eichen und Buchen finden, die aber bald verschwinden: Oberhalb von 800 Höhenmetern beginnt die Stufe des Hochmontan, in der Nadelhölzer allenfalls durch einzelne Ebereschen gestört werden. Und natürlich durch den leuchtend blauen Enzian und ein Meer von Blaubeersträuchern, die reiche Ernte im Herbst versprechen!
Ein Meer von Blaubeersträuchern
Doch jetzt, ab 900 Höhenmetern, werden die Bäume kleiner, gedrungener und die ersten Latschenkiefernhaine breiten sich aus. Es lohnt Rast einzulegen, nicht nur, weil der treibende Schweiß nach einer Flüssigkeitsnachfuhr verlangt. Auch der Ausblick ins Tal und auf die Hänge lässt den Atem stocken: Viel schroffer kann es in den Alpen auch nicht sein. Dann werden auch die Latschenkieferhaine spärlicher und der Weg treibt nur noch durch Fels und Moos und Gras Höhenmeter um Höhenmeter dem Ziel entgegen. Die Subalpine Vegetationsstufe ist erreicht, jetzt dominieren Wollgrasarten. Wasserfälle stürzen ins Tal, aber vermutlich führt der persönliche Schweißbach mehr Wasser und das Pochen in der Brust ist viel lauter als die Wasserkraft. Dann ist es geschafft: Am „Kozí hřbety“, dem Ziegenrücken, ist das Riesengebirgs-Plateau erreicht, auf gut 1.400 Höhenmetern. Ab jetzt wellt sich die Berglandschaft unvorstellbar sanft. Mit Ausnahme der Schneekoppe, auf deren Spitze augenscheinlich vor nicht sehr langer Zeit ein UFO gelandet sein muss.
Das Riesengebirge ist Tschechiens höchste Berglandschaft, in der Landessprache Krkonoše, auf Polnisch Karkonosze. Zwar schrieb der böhmische Maler und Kartograf Simon Hüttel im Jahr 1549, er sei mit elf Kameraden auf den Riesenberg, die Schneekoppe „zu öberst hinauf spaziert“. Wahrscheinlicher ist aber die Riese als Namenspatron: Holzriesen sind rutschbahnartige Rinnen zum Abtransport geschlagenen Holzes aus steilem Gelände. Noch heute durchziehen Schneisen das Terrain, wenngleich das Holz nicht mehr mit diesen Rinnen, sondern durch Seilzüge abtransportiert wird. Der Tourismus hat im Riesengebirge eine lange Tradition. Im Jahr 1681 wurde auf der Schneekoppe eine Kapelle errichtet, zu deren Eröffnung 800 Menschen auf den Berg gestiegen waren. 1870 bereisten 700 Touristen Špindlerův Mlýn, 30 Jahre später waren es schon 16.000. Zur Jahrhundertwende eröffnete eine Poststelle auf der Schneekoppe, im Jahre 1907 wurden dort 12.000 Postkarten mit einem Sonderstempel verschickt.
Polnisches Bier und tschechische Knödel
Wie gesagt: Zuerst muss man hochkommen! Dann aber ist der Lohn groß. Über den Kamm führt der Freundschaftsweg, gespickt mit Bauden, die polnisches Bier, tschechische Knödel oder Gulasch vom Hirsch offerieren. Es gibt beeindruckende Felsformationen wie die Männersteine (die Mädelsteine sind leider nicht begehbar), alpine Felskrater, Schneelöcher, die 200 Meter in die Tiefe fallen oder die Elbquelle, „pramen Labe“, Ursprung des mitteleuropäischen Flusses.
Überhaupt: die Elbe. Erst sie ist es, die aus dem Riesengebirge das gemacht hat, was es heute ist. Ohne Elbquellwasser wäre die Berglandschaft vermutlich überall ein sanftes Hochplateau. Es ist das Elbwasser, das sich tief in die Granitformationen eingegraben hat, Elbwasser, das den Aufstieg beschwerlich macht, Wasser, das das Riesengebirge in seinen sanften Höhenlagen und seine schroffen Tallandschaften trennt. Nach wenigen Kilometern führt die Elbe in Špindlerův Mlýn bereits so viel Wasser wie die Mulde in Grimma.
Man muss übrigens beim Aufstieg nicht unbedingt mit den Wasserfällen um die Wette schwitzen: Es gibt einige Seilbahnen, die aufs Plateau hinauf führen, sogar eine Seilbahn auf die Schneekoppe. Es gibt aber auch einen Bus, der stündlich hinauf zur Špindlerova bouda, zur Spindlerbaude auf gut 1.200 Höhenmetern führt: Hier, im Zentralgebirge, gibt es seit dem Jahr 1824 eine Herberge, die man heute mindestens als „Berghotel“ bewundern muss. Wie überhaupt alle Hütten auf dem Plateau mehr „Hotel“ denn ‚Hütte‘ sind. Und Hütten gibt es viele.
Jedenfalls: Wenn man einmal oben ist, zeigt dieses Mittelgebirge Hochgebirgscharakter – vom Hochmoor über Rosenwurz, Sudetenvogelbeere, Latschenkiefernhaine bis zum Birkhuhn. Nur dass, wer so weit nach oben will, nicht so viel schwitzen muss wie bei einer alpinen Gebirgstour: Das Riesengebirge ist ja das höchste Mittelgebirge Europas!
Nick Reimer