Wer den Frieden will, muss für den Frieden kämpfen

Ein Standpunkt von Michael Müller, Bundesvorsitzender der NaturFreunde Deutschlands

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Unser Land und Europa brauchen eine starke Friedensbewegung. Es gibt derzeit kein anderes Thema von so großer Bedeutung, das jedoch in der öffentlichen Debatte nur eine geringe Rolle spielt. Der Widerspruch ist im wahrsten Sinne des Wortes lebensbedrohend.

Entscheidende Parameter haben sich im „postnationalen Zeitalter“ (Jürgen Habermas) radikal verändert und werden sich weiter verändern. Die Antworten, die darauf gegeben werden, fallen aber zurück in die Denkweisen des Kalten Krieges. Die Chancen der Charta von Paris, die 1990 für das Ziel eines friedlichen und atomwaffenfreien Europas beschlossen wurde, sind verspielt worden. Die NATO hat sich immer weiter nach Osten ausgedehnt, ohne Absprachen einzuhalten und Verständigung zu suchen.

Neue explosive Konflikte sind entstanden. Wir leben in einer Welt, die sich am Rande des Friedens befindet. Deshalb ist es gut, dass sich die NaturFreunde, die eine starke pazifistische Tradition haben, wieder stärker in der Friedensbewegung engagieren. Dazu gehört auch „Frieden in Bewegung“, der Friedensmarsch von Hamburg nach Konstanz, den die NaturFreunde für das Jahr 2021 organisieren.

Dieser Artikel ist Teil der Broschüre Schriften zur Friedenspolitik: Die Explosion deutscher Rüstungsexporte, wofür?
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Kriege fallen nicht vom Himmel. Zuvor bauen sich Macht- und Expansionsinteressen auf, verschärfen sich soziale, kulturelle und heute auch ökologische Konflikte, wird das Säbelrasseln lauter, nimmt eine Freund-Feind-Ideologie zu, kommt es zu einer irrwitzigen Auf- und Hochrüstung. Heute, im Zeitalter der Globalisierung, in der wir es, wie es im Brundtland-Bericht der Vereinten Nationen heißt, mit einer „überbevölkerten, verschmutzten, störanfälligen und ungleichen Welt“ zu tun haben, wächst damit die doppelte Gefahr einer Selbstvernichtung der Menschheit.

Die schnelle Selbstvernichtung ist eine Gefahr, die sich aus der Beendigung von Abrüstung und Rüstungskontrolle sowie der Aufrüstung mit neuen Atomprogrammen und gigantischen Waffensystemen ergibt. Aber auch die langsame Selbstvernichtung wird real, weil sich ungelöste soziale und ökologische Konflikte zuspitzen. Die weltweite Klimakrise zerstört mit dem ansteigenden Fieber das Immunsystem der Erde. Sie treibt menschliches Leben über die planetarischen Grenzen unseres Planeten.

Die Folgen treffen letztlich die ganze Menschheit, aber lange Zeit noch werden sich die Folgen sozial, zeitlich und räumlich höchst unterschiedlich verteilen. Die militärische Abgrenzung der reichen Staaten vor den Auswirkungen einer zerfallenden Welt (Migration, Bürgerkriege, Armut), für die sie überwiegend verantwortlich sind, droht die weitere Zukunft zu bestimmen. Weil es um Privilegien und Sicherung des Wohlstands auf Kosten Dritter geht, wird es über eine längere Zeit den Versuch geben, sich in grünen Oasen des Wohlstands gegen Not und Elend wie zum Beispiel den Fluchtbewegungen aus unwirtlichen Weltregionen abzuschotten. Stefan Lessenich nannte das „Neben uns die Sintflut“.

Aufgrund der ungelösten Konflikte und dem Fehlen eines globalen Menschheitsvertrages droht das 21. Jahrhundert zu einem Jahrhundert grenzenloser Gewalt und erbitterter Verteilungskämpfe zu werden. In der Rangfolge der Staaten nach der Höhe der Rüstungsausgaben entfallen 75 Prozent auf die ersten zehn Länder. Nicht nur das. Gerade diese Länder wollen - oder sollen auf Druck der NATO und der USA - ihre Militärausgeben weiter drastisch erhöhen. Wie oft wollen diese Länder die Menschheit vernichten?

Deutschland liegt in der Rangliste des Grauens bereits auf Platz sieben. In 2019 hat Deutschland von den ersten fünfzehn Ländern den höchsten Zuwachs bei den Militärausgaben. Sollte das Zwei-Prozent-Ziel erfüllt werden, wäre unser Land das mit dem höchsten Militäretat in Europa. Jedes Maß und jede Verantwortung scheinen verloren zu gehen.

Eine Schlüsselrolle bei der neuen Hochrüstung haben neben den alten Hegemonialmächten China und Westeuropa. Mit China gibt es keine Verhandlungen über Rüstungskontrolle und Abrüstung. Die EU-Staaten verengen Europa auf die Europäische Union und setzen ihre Außenpolitik weitgehend mit den Interessen der NATO gleich. In der Außenwahrnehmung Europas hat dieses „Doppelgesicht“ eine zentrale Bedeutung für die heutigen Konflikte und verhindert fatal eine gesamteuropäische Perspektive. Für das Gegenteil wurde die EU mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. Alles vergessen, wenn heute mehr deutsche Rüstungsausgaben gefordert werden?

Das Friedensprojekt Europa muss die Folie für die Bedingungen entwickeln, unter denen eine stabile Friedensordnung über ihre bisherigen Grenzen hinaus sogar ausgeweitet werden kann. Die Grundlage dafür ist ein „zivilisatorisches Hexagon“, das – wie der Friedensforscher Dieter Senghaas es beschrieben hat - das staatliche Gewaltmonopol, Rechtsstaatlichkeit, soziale Regelung von Gewalt, Demokratie, Gerechtigkeit und institutionelle Stabilität miteinander verbindet. Als weiteres, siebtes Ziel muss Nachhaltigkeit hinzukommen.

Die Alternative, vor der wir stehen, ist klar: Wird die EU durch eine gemeinsame Verteidigungs- und Sicherheitspolitik zu einer eigeninteressierten Großmacht, die sich in der Rüstung von anderen Mächten wie USA oder China nicht prinzipiell unterscheidet? Oder kann sie zu einem globalen Akteur werden, der sich von der ewigen Dynamik der Machtkämpfe unterscheidet? Anders gefragt: Wird die EU zu einer Kraft, die auch jenseits ihrer Grenzen kooperative Tendenzen fördert? Oder wird sie zu einem global auftretenden Akteur von Law and Order, der damit nicht zuletzt den Nationalismus im Inneren verstärkt und nach Außen auch eine neue Form des Imperialismus denkbar werden lässt?

Für die Weltpolitik ist die UNO zuständig. An deren Zukunft zu arbeiten, sie zu reformieren und zu stärken, statt neue Formen einer Monroe-Doktrin neu zu beleben, das ist von zentraler Bedeutung für den Frieden. Das ist das Gegenteil von Großraumträumen und Hegemonialpolitik. Wir setzen auf Kooperation und die Suche nach Gemeinsamkeit trotz unbestrittener Konflikte und Streitpunkte. Dafür muss die radikale Entnormativierung friedenspolitischer Ziele gestoppt werden.

Nicht zuletzt vor dem Hintergrund einer kolonialen Tradition europäischer Länder besonders in Afrika sind die Interventions- und Dominanzgefahren, die eine verstärkte Europäisierung der Sicherheits- und Verteidigungspolitik mit sich bringt, nicht zu verleugnen. Doch auch darüber wird nur wenig debattiert. Die (EU-) Europäische Armee ist die Chiffre, hinter der sich auch die verstecken, die nicht offen über Aufrüstung reden wollen.

Natürlich hat sich die EU seit den 1950er-Jahren zu einem Gebilde entwickelt, in dem es eine Präferenz für Multilateralismus, eine regelorientierte Ordnungspolitik und eine strukturbildende Friedens- und Entspannungspolitik gab. Von daher gibt es eine Auseinandersetzung zwischen bewährten Prinzipien und einem neuen alten Denken, dass sich hinter Europa und Verantwortung übernehmen versteckt. Was für eine Täuschung, was für ein geistiger Betrug.

Welchen Stellenwert hat Friedenspolitik noch in einer Zeit, in der von der EU eine „Sprache der Macht“ und eine massive Aufrüstung gefordert werden? Offen wird bereits der deutsche Parlamentsvorbehalt als Hemmschuh für eine „stärkere Integrationsfähigkeit Deutschlands in Europa“ bezeichnet. Oder eine Verlagerung der Kompetenz für Militäreinsätze auf EU-Institutionen gefordert wird, womöglich als Mehrheitsentscheidung? Und was bedeutet eine „Europäische Armee“ für die Atomfrage? Wird dann auch Deutschland zur Atommacht, nicht nur als „Dienstbursche“ für die Atomwaffen in Büchel? Wenn das die „Normalisierung“ der deutschen Rolle in der Welt sein soll, sagen wir ganz laut Nein.

Michael Müller
Bundesvorsitzender der NaturFreunde Deutschlands