Wie das Verursacherprinzip in der Umweltpolitik außer Kraft gesetzt wurde - eine Kritik von Michael Müller, Bundesvorsitzender der NaturFreunde Deutschlands und Vorsitzender der Endlagerkommission
Kein Wunder, dass es Wutbürger gibt. Ein Musterbeispiel, weshalb sie den Nährboden finden, ist der goldene Handschlag, der die Fehler der vier deutschen Atombetreiber EnBW, Eon, RWE und Vattenfall auch noch belohnt. Das geschieht faktisch mit dem am 15. Dezember 2016 im Bundestag verabschiedeten Gesetz zur Neuordnung der Verantwortung in der kerntechnischen Entsorgung. Aber im Kern geht es nicht um Verantwortung, sondern um Verantwortungslosigkeit, die von Anfang die Geschichte der Atomwirtschaft geprägt hat.
Tatsächlich dreht der Atomdeal das Prinzip Verantwortung um, konkret das Verursacherprinzip bei der bestmöglich sicheren Lagerung des Atommülls. Denn nicht die Verursacher des Problems, die Atomkraftbetreiber, müssen nicht allein die Kosten für die Lagerung des Atommülls zahlen, sondern sie werden – wahrscheinlich sogar überwiegend – dem Steuerzahler aufgehalst. Wie hoch sie sein werden, kann noch niemand sagen, wenn die Vorgaben der Atommüllkommission von Bundestag und Bundesrat umgesetzt werden. Dazu gehören neue Kriterien, für die es bisher keine praktischen Erfahrungen gibt. Aber viel spricht dafür, dass die Atomkraftbetreiber sehr gut wegkommen.
38 Milliarden Euro Rückstellungen, aber maximal 23,556 Milliarden Euro Kosten
Das Verursacherprinzip wurde kurzerhand außer Kraft gesetzt, indem die Kosten für die vier Konzerne auf insgesamt 23,556 Milliarden Euro gedeckelt wurden. Dabei belaufen sich – zumindest in den Bilanzen der Unternehmen – die Rückstellungen auf rund 38 Milliarden Euro. Von daher geht es nicht um Verantwortung, sondern um eine fragwürdige Kostenverteilung zulasten der Steuerzahler, für die maßgeblich der Vorsitzende der am 4. Oktober 2015 eingesetzten Kommission zur Überprüfung der Finanzierung des Kernenergieausstiegs (KFK) die Weichen gestellt hat, der frühere Grünen-Bundesumweltminister Jürgen Trittin. Begründet wurde dieser Deal nicht nur mit der Gefährdung von Arbeitsplätzen, sondern auch mit der Sicherung ökonomischer und sozialer Strukturen vor allem im Ruhrgebiet.
Die KfK hat im Auftrag der Bundesregierung Handlungsempfehlungen erarbeitet, „wie die Sicherstellung der Finanzierung von Stilllegung und Rückbau der Atomkraftwerke sowie Entsorgung der radioaktiven Abfälle so ausgestaltet werden kann, dass die verantwortlichen Unternehmen auch langfristig wirtschaftlich in der Lage sind, ihre Verpflichtungen aus der Atomenergie zu erfüllen“. Doch genau dafür, für die Erfüllung der Pflichten aus dem Irrweg der Atomenergie, gibt es keine konkreten Auflagen oder Vorgaben im Gesetz.
Kathedralen des Fortschritts in der Sonderwirtschaftszone
Das Gesetz ist ein Hilfsprogramm für EnBW, Eon, RWE und Vattenfall, die sich selbst verschuldet in eine schwierige wirtschaftliche Situation gebracht haben, weil sie die Energiewende nicht nur verschlafen haben, sondern sie sogar zu verhindern suchten. Der Atomausstieg, auf den sie sich im Jahr 2000 mit der rot-grünen Bundesregierung verständigt hatten, wurde schon kurze Zeit danach von ihnen wieder aufgekündigt, indem sie bei der Bundestagswahl 2002 auf neue politische Mehrheiten setzten, die den Ausstieg wieder rückgängig machen würden. Das war dann unter der Regierung Merkel/Westerwelle im Jahr 2010 der Fall. Es kam zur Laufzeitverlängerung bis zum zweiten SuperGAU nach Tschernobyl, der Katastrophe von Fukushima im März 2011.
Über Jahre haben die Atomkonzerne mit hohen staatlichen Subventionen ihr Energieimperium aufgebaut und in einer Art Sonderwirtschaftszone Milliardenbeträge verdient. Zu den dunklen Kapiteln der nuklearen Stromerzeugung gehört nicht nur, dass die als Kathedralen des Fortschritts gefeierten Atomkraftwerke massiv subventioniert wurden, sondern dass die öffentliche Hand jetzt auch noch für das Schlusskapitel der Atomkraft, den Abbau der Reaktoren und die Lagerung des Atommülls, hohe Milliardenbeträge zahlen muss.
Das von Willy Brandt eingeführte Verursacherprinzip zählt nicht mehr
Das ist der Deal, den das Gesetz macht. Das Verursacherprinzip, das von Willy Brandt 1969 in die Umweltpolitik eingeführt wurde, zählt nicht mehr. Zerstört wird damit ein tragendes Fundament der Umweltpolitik, das zuletzt von der Endlagerkommission, die sich über zwei Jahre mit dem Atommüll beschäftigte, noch einmal als Leitprinzip der Politik herausgestellt wurde. Vielleicht ist das der Grund gewesen, dass die KfK eingesetzt wurde. Denn die Endlagerkommission hat nicht nur am Verursacherprinzip festgehalten, sie ging auch von deutlich höheren Kosten aus.
Damit sind die Atomkonzerne „entlastet“, die sich immer wieder als unseriöser Verhandlungspartner erwiesen haben. Als sie in den 1990er Jahren selbst erkannten, dass die Atomkraft in Deutschland auf einen nicht kleiner werdenden Widerstand stößt und deshalb keine Zukunft mehr haben kann, verständigten sie sich im Konsens mit der damaligen Bundesregierung Schröder/Fischer auf einen Atomausstieg bis zum Jahr 2022. Im Jahr 2011 macht die Bundesregierung nach der Katastrophe in Japan daraus ein Gesetz, das nicht zuvor mit den Betreibern beraten wurde. Dagegen klagten die Atomkonzerne – mit Ausnahme von EnBW – auf Entschädigung. Vattenfall sogar vor dem internationalen Schiedsgericht in Washington.
Das bisschen Atommüll kann ja im Meer versenkt werden
Doch das Bundesverfassungsgericht hat die Rechtmäßigkeit des Atomausstiegs bestätigt. Weil aber bestimmte zugesagte Reststrommengen im Gesetz nicht berücksichtigt wurden, entschied es, dass bis 2018 bei dem nie in Betrieb gegangenen AKW Mülheim-Kärlich sowie beim AKW Krümmel noch Klarheit über die Höhe einer Entschädigung nachverhandelt werden muss. Daraus ergeben sich zwei Möglichkeiten: Entweder werden die tatsächlichen Entsorgungskosten für den Atommüll den Konzernen angerechnet: Dann muss der Staat auf keinen Fall noch etwas zuzahlen. Oder aber der Staat zahlt die geforderte Entschädigung: Dann müsste die Entsorgung des Atommülls nach dem Verursacherprinzip verrechnet werden. Beides geschieht jedoch nicht.
Die Begünstigungen wurden von Anfang an gewährt, seit 1955, als das Atomministerium gegründet wurde, aus dem später das Forschungsministerium entstand. Die wenigen kritischen Stimmen, die vor den Folgen warnten, wurden lange Zeit einfach ignoriert. Als 1957 an der TU München der erste deutsche Forschungsreaktor in Betrieb ging, herrschte eitel Sonnenschein. Die Atomenergie versprach unendlich viel und auch noch billigen Strom. Das bisschen Atommüll, das anfalle, könne, so die naive Behauptung, im Meer versenkt oder tief in die Erde gelagert werden.
Der Atommüll gefährdet 40.000 Generationen
Lange Zeit herrschte ein blinder Glaube an den technischen Fortschritt vor, auch die Angst vor einer „Energielücke“ diente als Fundamentalbegründung für den Ausbau der Atomenergie. Die Atommeiler sollten zu einer „Brennstoffautarkie“ führen. Von 1957 bis 2005 gingen in Deutschland knapp 110 Forschungsreaktoren und Kernkraftwerke in Betrieb. 1989 wurde der letzte Atommeiler in Neckarwestheim mit dem Stromnetz synchronisiert, im selben Jahr wurde auch in Ostdeutschland der Block 5 im Kernkraftwerk Greifswald fertiggestellt. Die Notwendigkeit einer Energiewende hin zu solaren und hocheffizienten Technologien wurde verdrängt.
Auch die Erkenntnis, dass Radioaktivität weit über den menschlichen Erfahrungshorizont hinaus gefährlich ist, wurde verdrängt. Bis heute existiert keine sichere Lagerung des Atommülls aus Brennelementen, Reaktoren und Urananreicherungsanlagen. Ein deutsches AKW produziert aber im Mittel 30 Tonnen stark strahlenden Müll pro Jahr. Bis zum Ende der Atomenergie in Deutschland werden nach Angaben des Bundesamtes für Strahlenschutz (BfS) rund 29.000 Kubikmeter hoch radioaktiver Müll angefallen sein. Das BfS beziffert die Langzeitgefahren des Atommülls auf 40.000 Generationen, also eine Frist von einer Million Jahren – eine für menschliche Vorstellungen unvorstellbar lange Zeit. Denn das heißt: Wenn im Jahr 2022 das letzte Kernkraftwerk abgeschaltet sein wird, ist eine Lösung bis zum Jahr 1.002.022 notwendig. Und zwar in Deutschland, denn ein Export des Atommülls ist nicht erlaubt.
Die Zeit für den Bau eines Endlagers drängt
Das aber zeigt auch, wie sehr gesetzliche Vorgaben missachtet werden. Das deutsche Atomgesetz verlangt nämlich, dass kein Kernkraftwerk ohne Entsorgungsnachweis, der eine „schadlose Verwertung“ oder „geordnete Beseitigung radioaktiver Abfälle“ garantiert, betrieben werden darf. Anfangs, bis zum Jahr 2005, galt dafür der Weg der Wiederaufbereitung, durch die aber unterm Strich die Abfallmenge noch vermehrt wurde.
Derzeit wird der Atommüll in zeitlich befristeten Zwischenlagern aufbewahrt, bis es irgendwann mal ein Endlager gibt. Zwischenlager sind riesige überirdische Hallen, die zum Großteil auf dem Gelände der Atomkraftwerke stehen. Die Zeit für den Bau eines Endlagers drängt, denn die Zwischenlager haben eine Betriebserlaubnis von 40 Jahren. Daraus dürfen keine Langzeitlager werden, aber schon jetzt ist absehbar, dass die bisher genehmigte Zeit nicht ausreicht, um ein fertiges Endlager zu haben.
Ein Atommüll-Endlager ist ein Gesellschaftsprojekt mit zentralen Prinzipien
Der Atomausstieg hat in Deutschland das Fenster geöffnet, zu einem Neuanfang bei der Suche nach einer möglichst sicheren Verwahrung des Atommülls zu kommen. Es kam zum Standortauswahlgesetz. Bundestag und Bundesrat haben auf dieser gesetzlichen Grundlage eine Kommission eingesetzt, die Kriterien für ein Standortauswahlverfahren vorgeschlagen hat. Sie haben für einen Weg gestimmt, der die Fehler der Vergangenheit beendet und neues Vertrauen aufbaut. Dabei gilt: Sicherheit zuerst.
Die möglichst sichere Verwahrung des Atommülls muss zu einem Gesellschaftsprojekt werden, zumal dahinter ein grundsätzlicher, aber ungeklärter Konflikt steht. Doch das Gesetz zur Finanzierung hat neues Misstrauen geschaffen. Es ist nicht prinzipienfest, sondern macht den Eindruck der Kungelei.
Die Gemeinschaftsanstrengung einer sicheren Verwahrung des Atommülls verlangt die Verständigung auf zentrale Grundprinzipien, die in einem Leitbild festgehalten werden, zu dem folgende Prinzipien gehören:
- Der Atomausstieg muss unumkehrbar sein.
- Die nationale Verantwortung ist die Grundlage der Standortentscheidung.
- Die vorgeschlagenen Standorte müssen das gleiche Erkundungsniveau erreichen, um eine echte vergleichende Auswahl möglich zu machen.
- Standorte, die in die engere Wahl kommen, müssen genauso gründlich untersucht werden, wie dies in Gorleben geschehen ist.
- Das Verursacherprinzip gilt uneingeschränkt, die Betreiber und die Rechtsnachfolger müssen für die dauerhaft sichere Lagerung haften.
Das Ende der Atomzeit kostet auf jeden Fall mehr als jetzt vereinbart
Bei der Finanzierung sind diese Grundsätze schon ausgehebelt worden. Das ist keine Grundlage für einen gemeinsamen Neuanfang. Das Problem ist seit vielen Jahren bekannt, wurde aber von Lobbyinteressen verdrängt. So habe ich beispielsweise schon in den 1990er Jahren zusammen mit dem verstorbenen Bundestagsabgeordneten Hermann Scheer (SPD) einen Gesetzesentwurf in den Bundestag eingebracht, die weitgehend steuervergünstigten Rückstellungen zu überprüfen, ob sie angemessen sind, und sie nicht länger nur bilanztechnisch zu erfassen, sondern in einen öffentlichen Fonds zu überführen. Leider haben wir keine Mehrheit für unser Vorhaben bekommen.
Die Unternehmen haben mit Atomstrom viel Geld verdient, ihre privilegierten Rückstellungen von rund 38 Milliarden Euro wurden dennoch verrechnet und auf wundersame Weise auf 23,556 Milliarden Euro verringert. Dabei war auch diese Summe unzureichend, um die Kosten der sicheren Verwahrung des Atommülls und den Abbau der Atomanlagen abzudecken. Selbst konservative Schätzungen gehen von einer Summe von mindestens 45 bis 48 Milliarden Euro aus. Andere Schätzungen, die von einem realistischen Zinssatz ausgehen, kommen auf 70 bis 82 Milliarden Euro.
Dieses (durchsichtige) Geheimnis ist verantwortungslos
Die Kosten sind auf jeden Fall höher als die jetzt gedeckelte Summe, denn es sollen verschiedene Pfade für die Verwahrung des Atommülls bewertet werden, und zwar in allen drei dafür infrage kommenden Wirtsgesteinen: Ton, Granit und Salz. Hinzu kommen neue Anforderungen an das Konzept wie Rückholbarkeit oder Bergbarkeit, Zeitraum der Zugänglichkeit des Lagers, Beschaffenheit von geologischen Barrieren, die Sicherstellung eines undurchdringlichen Abschlusses und eine Begrenzung der Wärmebildung an der Außenwand der Behälter. Zudem muss eine dauerhafte Infrastruktur der Kontrolle und Überwachung sowie der Sicherung von Know-how und Wissen geschaffen werden.
Es bleibt ein (durchsichtiges) Geheimnis, warum die Kosten für die AKW-Betreiber gedeckelt wurden. Das als Verantwortung zu bezeichnen, ist dreist, denn es ist tatsächlich entweder eine Angst- oder Interessenpolitik, die mit dem Verursacherprinzip nicht viel zu tun hat. Niemand bestreitet, dass die Energiekonzerne bei der Energiewende vor schwierigen Herausforderungen stehen. Eine Gemeinschaftsanstrengung für die ökologische Modernisierung der Infrastruktur ist notwendig und überfällig. Aber es passt nicht zusammen, bei VW zur Beseitigung der Diesel- und Feinstaubtrickserei berechtigt das Verursacherprinzip zu fordern, aber bei den Atomkonzernen ganz anders zu verfahren. Das passt nicht zusammen.
Michael Müller
Bundesvorsitzender der NaturFreunde Deutschlands und Vorsitzender der Endlagerkommission
Dieser Beitrag erscheint parallel im Blog der Republik - Anstalt für andere Meinungen.